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Bindungstheorie

Vom Kuschellöwen zur Bindungstheorie

Was ist das denn für ein merkwürdiges Thema? Das können Sie sich zu Recht fragen. Und wir sind doch hier nicht in der Kindertagesstätte!

Nun, vor vier Tagen schickte die stolze Mutter ein Video ihrer drei Monate alten Tochter. Es zeigt eindrucksvoll, wie die Kleine völlig entspannt daliegt, die Mutter anschaut, dann lange den Steiff-Löwen anblickt, sogar lächelt, und schließlich dabei eine ansehnliche Anzahl von Lauten bildet. Nanu, so könnte man denken, kann das Baby schon sprechen?

Da war sie wieder, die Erinnerung, dass ich nämlich für Walter Krause, meinen Doktorvater – Internist, Hämostaseologe, Psychosomatiker und Philosoph – über Jahre hinweg Tabellen und Grafiken für seine Forschungsarbeiten erstellt habe. Seine großen Themen waren zuletzt das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell, der Bindungsstil und seine Bedeutung in Psychotherapie und Rehabilitation sowie Studien mit dem Thema „Das Ethische, Verantwortung und die Kategorie der Beziehung bei Levinas“ Eine weitere seiner philosophischen Betrachtungen war das 2014 veröffentlichte Buch „Der Torso als Metapher“ Zusätzlich war er Mitglied der Georg Groddeck-Gesellschaft. Der Leib-Seele-Dualismus war natürlich auch eines seiner Standardthemen.

Walter war ein echter Philosoph, ein Denker, der die Bücher in seiner riesigen Schrankwand bestimmt alle gelesen hatte. Und ich bin zwar ein Arzt, aber gleichzeitig auch ein begeisterter Techniker, der Sohn eines Ingenieurs halt. Die Philosophie ist für mich nur ein Randthema. Aber die Kontakte zu ihm waren teils sehr spannend, da man durch ihn Einblicke in eine völlig andere Welt bekam.

Doch zurück zum Ausgang, zu unserem süßen Baby, das offensichtlich erste Schritte in der Entwicklung weg von der vertrauten Bindung an die Mutter macht. Und die Kuscheltiere oder sogar die Laute sind Hilfsmittel dabei. Sie stellen Übergangsobjekte dar. Selbst Erwachsene haben sie, diese stabilisierenden Objekte, ich auch. Es ist heute bekannt, das sie im Umgang mit Demenzkranken eine therapeutische Bedeutung haben können. Sie symbolisieren Vertrautheit, sie wirken beruhigend. Bei Patienten habe ich sie oft gesehen. Etwa 20 % der Erwachsenen nehmen auf Reisen ein solches Objekt mit.

Es geht in der Entwicklung der Kinder um die Ausbildung einer stabilen Persönlichkeit. Die Beziehung zur Mutter stellt die erste und womöglich für die Ausbildung der Persönlichkeit wichtigste dar. Die angstfreie Ablösung kann mehr oder weniger gut gelingen, wobei die Persönlichkeit der Mutter ins Spiel kommt. Denn hier entwickeln sich bestimmte Bindungsstile, die unterschiedliche Folgen haben können. Das Bindungsverhalten als solches, so wird vermutet, ist eine Entwicklung der Evolution. Es macht den Menschen zu einem sozialen Wesen, dass nämlich Nähe sucht und sie aufrechterhält.

Noch einige Worte zur Geschichte der Entwicklungspsychologie. John B. Watson hatte noch in den späten 1920ern vor einer zu großen Nähe zwischen Müttern und ihren Kindern gewarnt. Erst etwa 1940 hatte Benjamin Spock durch sein Buch Säuglings- und Kinderpflege diese harsche Sicht überwunden. In Deutschland wirkte diese Sicht noch bis in die 90er Jahre nach, es sei an das noch vom Gedankengut des Nationalsozialismus geprägten Buch erinnert „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von Johanna Haarer.

Auch in 1940 hatte John Bowlby die Bedeutung der Eltern-Kind-Bindung für das spätere Leben formuliert. Mary Ainsworth war eine weitere führende Wissenschaftlerin der Entwicklungstheorie. Sie entwickelte u. a. das „Fremde-Situation-Setting“, mit dem man den Bindungstypen bei Kindern bis zu 5 Jahren ermitteln kann. Meist werden heute 4 Bindungstypen festgestellt, in Hochrisikogruppen, z. B. bei schwer traumatisierten Kindern, konnten auch weitere Typen identifiziert werden. Bei Erwachsenen wird das Adult Attachment Interview eingesetzt.

Hier 4 Standardtypen bei jungen Kindern (FSS):

BindungstypAbkürzungHäufigkeit
SicherB60-70 %
Unsicher-vermeidendA10-15 %
Unsicher-ambivalentC10-15 %
Desorganisiert-desorientiertD5-10 %

Typen der Bindungseinstellungen aus dem AAI:

BindungseinstellungKurzBei den Kindern
vermehrt (s. o.)
AutonomFB
Distanziert-beziehungsabweisendDA
Präokkupiert-verstricktEC
Unverarbeiteter ObjektverlustUD
Nicht klassifizierbarCC

Stark vereinfacht, also für mich verständlich, heißt das, dass Bindungsstile bzw. Bindungseinstellungen somit in mehr als 3/4 der Fälle „vererbt“ werden. Mir war bisher der begriffliche Unterschied zwischen Stil und Einstellung bisher nicht klar. Und diese beiden Aspekte haben große Auswirkung auf das gesamte Leben, auf die psychische Gesundheit, auf die Beziehungen und auf die Kontakte. Die teils komplexen Begriffe sind meist nicht selbst erläuternd. Sie benötigen jeweils eine Legende, beschreibende Beispiele, um sie verstehen zu können. Auf die aktuelle wissenschaftliche Diskussion, die Konsistenz der Tests, die Stabilität der Messergebnisse, den Einfluss weiterer Bindungspersonen und andere Aspekte können wir hier nicht eingehen. Es gibt umfangreiche Literatur zum Thema.

Walter Krause versuchte, die Werkzeuge, die die Bindungstheorie bereitstellt, bei seinen Patienten in der psychosomatischen Reha-Klink einzusetzen. Er konnte feststellen, dass die vorbestehende Bindungseinstellung des Patienten eine Auswirkung hatte auf den Erfolg des psychotherapeutischen Settings der Klinik. Er war in Fachgesellschaften tätig und hat das aktiv publiziert. Ich habe einen Link zu einer Arbeit aktiviert, bei dem er den Einfluss des Bindungsstiles auf den Effekt des Autogenen Trainings bei seinen Patienten gemessen hat.

Und damit wären wir in der Welt der psychologischen Fragebögen angekommen, der Skalen, der nichtparametrischen Test, der Statistik insgesamt. Hier wundert mich immer, dass die meisten der psychologischen Skalen und Fragebögen durch Copyright geschützt und nicht der Öffentlichkeit zugänglich sind. Ich kann mich nicht erinnern, dass es in der Organmedizin vergleichbare Vorgehensweisen gibt. Wenn Ergebnisse unter Anwendung unbekannter Fragebögen präsentiert werden, hat das für mich den Touch einer Geheimwissenschaft. Die Wissenden sind erleuchtet, die Normalsterblichen nicht.

Die Bindungstheorie ist eine Herausforderung für Mütter. Ihre Eigenschaft als primäre Bezugsperson kann auch ganz schön stressig sein. Offene Fragen für Mütter: Stehe ich unter Beobachtung? Mache ich alles richtig? Kann ich überhaupt eine gute Mutter sein? Was ist mit anderen Bezugspersonen? Und was ist mit den Vätern? Haben die überhaupt eine Bedeutung? Fragen über Fragen.

Trotzdem, der Blick über den Tellerrand in ein gänzlich fremdes Fach war und ist sehr interessant. Und Walter war dabei sehr inspirierend.

Ich bin mir jetzt schon ganz sicher, dass unser oben erwähntes Baby auf gutem Weg zu einem günstigen Beziehungsstil ist!


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