You are currently viewing Früher war alles besser?
Platon / Glyptothek / Public domain

Früher war alles besser?

Nur eine Phrase!

Der Titel ist ein beliebter Satz, von der es sehr viele Varianten gibt. Die Idee ist immer die Gleiche: Vor etlichen Jahren – meist in der Jugend derjenigen, die so etwas verkünden – sei alles viel besser gewesen, ein Ideal sei verloren gegangen, die Jugend sei nun nachlässig oder egoistisch, das politische System früher noch authentisch, heute ohne Werte und korrupt. Man könnte das beliebig fortsetzen.

Alte Männer

Wenn alte Autoren, meist Männer so etwas feststellen, dann droht leider die Fehleinschätzung: Nur weil nun etwas anders ist, als zu der Zeit der Jugend der Autoren, ist es heute noch lange nicht schlechter. Diese Art der Kritik hat allerdings eine lange Tradition. Schon zu Zeiten der alten Ägypter vor mehr als 4000 Jahren waren Klagen dieser Art gängige Übung. Sie wurden bereits in Hieroglyphen niedergelegt. Auch die griechischen Philosophen Sokrates und Platon musste sich so äußern, dass beispielsweise die Jugend keinen Respekt mehr hat und dass somit früher alles besser war.

Seelenlose Medizin?

Wenn der Titel des Buches „Die Medizin verkauft ihre Seele“ von M. Wiedemann stimmen sollte, würde das im Umkehrschluss bedeuten, dass die Medizin – gemeint wohl der Medizinbetrieb, oder auch das Arzt-Patientenverhältnis – früher eine unverkäufliche, ja eine ideale Seele, also hohe ethische Ziele hatte. Und heute seien die weg. Unter Alt und krank ist langweilig habe ich darüber geschrieben.

Oekonomie als heilige Kuh

Also ehrlich, die Behauptung müsste in diesem Buch durch schlüssige Beispiele gestützt werden. Ich finde genügend Aspekte, die belegen, dass es seit der Zeit, als ich Student und junger Arzt war, enorme Fortschritte in der Versorgung der Patienten gegeben hat. Und dies auch für die Patienten selbst, natürlich auch darin, was das technische und ökonomische Niveau betrifft. Und dies pauschal als seelenlos abzutun, das finde ich inakzeptabel. Nur weil die Ökonomie in eine damals gar nicht kontrollierte Medizin eingeführt wurde, ist nicht alles einfach nur schlecht. Die Dominanz der Wirtschaft ist doch sonst in der Gesellschaft die heilige Kuh und wird dort von der Mehrzahl der Bürger überhaupt nicht infrage gestellt.

Liquidation in 6-facher Höhe des GOÄ-Satzes beseelt!

Die früher noch ausgeprägtere Bevorzugung von Privatpatienten und die Durchführung von Diagnostik und operativen Maßnahmen einzig aus dem Grunde der Rechnungsstellung in sechsfacher Höhe des GOÄ-Satzes war nach meiner Meinung auf jeden Fall seelenlos. Die überstarke Bindung von empfänglichen (Privat-)Patienten an sogenannte Koryphäen war und ist eine Ungeheuerlichkeit. Es ist meiner Meinung nach Aufgabe eines Arztes, dem Patienten mit der „Heilung“ seine Autarkie zurückzugeben. Alles andere ist eine Art Missbrauch. Und das oft nur aus Gründen der persönlichen Eitelkeit des Arztes oder zum Zwecke der Liquidation.

Privatversichert, ist das ein Vorteil?

Ein verantwortungsvoller, also beseelter Arzt würde einen Patienten mit hoher Neigung zur Bindung einem Psychotherapeuten zuweisen, und nicht dieses ungute Spiel immer weiter fortsetzen, da es den Patienten selbst gefährdet. Auch heute ist es meiner Meinung nach nicht unbedingt von Vorteil, als Privatpatient behandelt zu werden, zumal die Versorgung der Kassenpatienten auf fachlich identischem Niveau stattfindet. Vielleicht mit etwas weniger Leistungen. Ist das schlimm?

Beispiel Dekubitus

Noch ein medizinisches Beispiel: In meiner Jugend gab es noch die Problematik der Dekubitalgeschwüre bei geriatrischen Patienten. Da die Lagerungsbehandlung damals noch nicht standardisiert war, kam es fast regelhaft im Krankenhaus zum Auftreten von höhergradigen Ulzera, mit Schmerzen, extrem langen Aufenthalten, bis hin zu Tod solcher Patienten. Heute wird diese Problematik nicht mehr hingenommen, es gibt Scores, eine Qualitätssicherung, Lagerungshilfen, Spezialbetten Wundmanager und mehr. Dekubitalgeschwüre treten im Krankenhaus kaum noch auf, auch nicht in Pflegeheimen. Wenn das kein Fortschritt ist im Vergleich zu früher, dann weiß ich nicht.

Künstliche Ernährung (PEG) in der Geriatrie

Ich kenne noch die Zeit, in der aus Bequemlichkeit bei geriatrischen Patienten gerne eine PEG (Sonde für die künstliche Ernährung) angelegt wurde. Die Ernährung dieser Patienten, die ja oft wehrig sind, war dadurch viel einfacher möglich. Mit deutlich weniger Zeitaufwand und Zuwendung. Die Heimleitungen baten sogar öfter darum. Bis man die Folgen erkannte: Mir sind völlig demente Patienten erinnerlich, die kein persönliches Bewusstsein mehr hatten, die dann unter einer mehrjährigen künstlichen Ernährung sogar wieder an Gewicht zugenommen haben, bis sie rosig, faltenlos und speckig dalagen. Wie in einem schlechten Science-Fiction-Film. Drohnen halt, völlig seelenlos. Dann kam die Erkenntnis auf, dass das so nicht vertretbar sei. Patientenverfügungen, in denen die Anlage einer PEG definitiv abgelehnt wird, sind heute die Regel. Auch das find ich einen Fortschritt hin zu mehr Menschlichkeit.

Soziale Dienste

Wenn ich nochmals zurückblicke, dann fällt mir die Entwicklung der heutigen sozialen Dienste ein. Schon mit der Aufnahme im Krankenhaus erfolgt ein Assessment im Hinblick auf die Selbständigkeit, man nennt das schon mal Entlassmanagement. Aber ist das verwerflich? Den Zustand des Patienten und die soziale Situation ganz früh zu checken, ist das seelenlos? Ich finde nicht. Wir leben in Deutschland ja in einem Land mit einem hohen Singleanteil, gerade auch im Alter. Und die ideale Großfamilie, die Ältere mitversorgen kann, ist selbst im dörflichen Umfeld selten geworden. Die Gesellschaft insgesamt hat sich hier geändert. Die Medizin ist ein Teil dieser Gesellschaft, nicht besser als diese.

Luxusversorgung ist etwas anderes als seelenlose Medizin

Unter Alt und krank ist langweilig habe ich eine ganze Reihe von Situationen und Prozeduren genannt, bei denen ich mir gut vorstellen kann, dass wirtschaftliche Überlegungen der Leistungserbringer eine Rolle spielen könnten. Aber das ist ein Problem der Luxusversorgung in einem reichen Land. Das mag unwirtschaftlich sein, aber ob Patienten ein direkter Schaden dadurch entsteht, das ist erstmal fraglich. Ich halte es eher für Verschwendung, die droht. Aber geht dadurch die Seele verloren, das Wertebild? Schon bei den alten Griechen gab es Klagen darüber, dass Ärzte sich nur bereichern würden. Also, es gibt wirklich nichts Neues unter der Sonne!

Medizinkonzerne haben heute Wertebilder

Selbst rein privatrechtliche große Klinikkonzerne geben heute hochwertige Leitbilder und Compliance-Richtlinien für Mitarbeiter aus. Von meiner Berufstätigkeit her kenne ich noch die Sana AG. Die Papiere sind sehr umfangreich, und man staunt über die benutzten Begrifflichkeiten. So schreibt die Sana AG München: „WIR ERKENNEN UND BERÜCKSICHTIGEN DIE INDIVIDUELLEN BEDÜRFNISSE UNSERER PATIENTEN UND RICHTEN UNSER HANDELN DANACH AUS.“ Der Satz klingt zumindest nicht seelenlos. Das Leitbild kann hier extern bei Sana geladen werden. Sana AG München hat zudem umfangreiche Compliance-Richtlinien für Mitarbeiter, zuvorderst für ihre Führungskräfte. Das ist schon cool, was da steht, Mobbing geht gar nicht. Hier der externe Link zum Kodex. Bitte sehen Sie die Links nur als Beispiele!

Qualitätsmanagement hat auch gute Seiten

Manchmal denke ich, die Konzerne geben sich hiermit eine Art sterile Ethik ohne Religion. Vielleicht muss man die Firmenvertreter im Falle des Falles daran erinnern, dass sie so etwas haben. Diese Elemente sind sogar Bestandteile des oft nur negativ belegten Qualitätsmanagements! Zugegeben, das ist eine vergleichsweise trockene Materie. Ich fühle mich auch nicht als Experte für QM, obwohl ich mal EFQM-Assessor war.

Aber immerhin, man kann fundierte Wertebilder bei großen Leistungserbringern finden! Ich finde, das ist schon ein echter Fortschritt.

Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit!

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Albrecht Lang

    Für den, der es wissen will: European Foundation of Quality Management, Assessor wird man nach einer einwöchigen Schulung. Das ist eine etwas formale Sache, es geht um den kontinuierlichen und strukturierten Verbesserungsprozess. Man nimmt sich heute meist wenige konkrete Aspekte, die nach den Regeln des QM strukturiert werden. Echte medizinische Qualität ist ein Teil des QM in medizinischen Einrichtungen. Der Unterschied wird oft nicht verstanden.

Schreibe einen Kommentar

* Bitte verwenden Sie ein signifikantes Pseudonym, nicht Ihren Klarnamen. Ihre IP-Adresse wird beim Absenden anonymisiert. Ihre Email-Adresse ist nicht erforderlich.