Du betrachtest gerade Treffen mit der Verwandtschaft ist wie ein Blick in den Spiegel

Treffen mit der Verwandtschaft ist wie ein Blick in den Spiegel

Mehrere oft gegensätzliche Treffen hatten wir schon in diesem Jahr. Ich beziehe mich hier auf zwei solcher Events mit meiner eigenen Verwandtschaft. Das Erste in einer deutschen Großstadt, das Zweite in meinem Geburtsort Atzbach, einem Dorf in Mittelhessen. Der Gegensatz könnte somit kaum größer sein. Ein Treffen mit der Verwandtschaft ist schließlich wie ein Blick in den Spiegel. Bei mir geht es dann immer um die Frage: Wer bin ich eigentlich, wo stehe ich in Relation zu meinen Verwandten?


Der Besuch bei der Cousine in einer deutschen Großstadt waren wir 9 Tage in einem guten Hotel in der Peripherie untergebracht. Somit blieb genügend Privatsphäre und Komfort für uns, auch Zeit für Sightseeing. Wir haben soweit möglich den ÖPNV genutzt, denn das ist dort kein Problem. Es handelt sich um eine schöne Großstadt im Grünen, mit vielen bedeutenden Museen und sonstigen Sehenswürdigkeiten.

Wir waren beinahe jeden Tag bei der Cousine in ihrer großen und schönen Wohnung. Sie hat uns dort und im vorzüglichen Clubrestaurant in der Börse aufwändig bewirtet. So hatten wir viel Zeit für Gespräche in perfektem Ambiente. Ich konnte die mir nicht bekannte Einschätzung meiner Familie hier von einer nahen Verwandten hören. Da war die Rede von Minderwertigkeitsgefühlen, ja dem Gefühl der Armut in der anderen Familie. So ein Gefühl kenne ich bei mir nicht. Es war auch die Rede von Rivalität mit einer weiteren Cousine und der problematischen Beziehung zur eigenen Familie, gerade zum Vater. Auch das habe ich so nicht erlebt.

Diese Cousine war – in Relation zu mir – beruflich und finanziell viel erfolgreicher als ich. Aber ihr wichtiger Lebenspartner ist nun verstorben, es gibt keine eigenen Kinder, die angeheiratete Familie ist klein. Wir lernen auch diese sie bei einem Besuch vor Ort und an einem Abend bei der Cousine kennen. Es ergeben sich viele intensive Gespräche auch hierbei. Durch unsere eigenen Lebenswege und Berufe, gerade auch unsere Kinder samt ihren Berufen und Familien können wir dennoch gut mithalten. Wirklich, Geld ist nicht alles. Aber natürlich hilfreich, wenn man es hat. Eine schöne und intensive Begegnung war dieser Besuch insgesamt, der die übliche Oberflächlichkeit weit hinter sich gelassen hat.


Das zweite Treffen mit einem großen Teil meiner Verwandtschaft Lang verlief völlig anders. Erst im zweiten Anlauf kam es in Atzbach zustande. Das evangelische Gemeindezentrum vis-à-vis des Altenheimes ist mir bestens bekannt, zumal ich den Bau ja miterlebt habe. Obwohl bestimmt 40 Personen gekommen sind, wird nur der mittlere von drei Teilen des Raumes benötigt. Manche sind von weither angereist, von Leipzig, von Würzburg, von Rot. Also durch die halbe Republik. Die Mehrzahl wohnt allerdings in der Region. Meine beiden Söhne sind auch anwesend. Eine meiner Schwestern fehlt leider. Wunschgemäß halte ich einen kurzen Nachruf auf meinen Bruder Gerhard, verdichtet: „Er hatte ein kompliziertes Leben, war ein Linker, ein Ratgeber, er fehlt nicht nur mir!“

Es gibt Chili con Carne zu essen, danach Kaffee und Kuchen. Ich suche aktiv die Nähe von Verwandten auf. Es ergeben sich viele Gespräche, wobei nicht nur ich mehrfach das Empfinden habe, dass diese an irgendeinem Punkt stocken, quasi zu Erliegen kommen. Warum? Es wird mir auch klar, dass ich die meisten der nächsten Generation gar nicht kenne, weder deren Namen noch deren persönliche Geschichte. Meine Kenntnis der Cousinen und Cousins bezieht sich zumeist auf die Zeit von vor 50 Jahren. Das reicht offensichtlich nicht, um die aktuelle Gedankenwelt und Lebenssituation zu verstehen.

Im Nachgang suche ich den Kontakt zu meinen Schwestern, die tatsächlich die mir unerklärliche Sprachlosigkeit zum Teil erläutern und mit Inhalten füllen können. Viele der Familien haben nämlich ihre eigenen Nöte, die ich nun zum Teil kenne. Demgegenüber wirken die meisten meiner eigenen Sorgen richtig klein oder gar unbedeutend. Auch meine gesundheitlichen Dinge.

Wir haben den Abend, nach einem Besuch am Grab meiner Eltern, alleine in einem sonnigen Biergarten in Wetzlar direkt an der Lahn genossen. Die folgende heiße Nacht konnten wir im Wetzlarer Hof verbringen. Das ist das ältere Hotel mit guter Lage am oberen Rand der wirklich sehenswerten Altstadt. Weitere Kontakte zu den Verwandten vor Ort haben sich nicht ergeben, sodass wir wieder nach Hause gefahren sind. Dennoch, es waren schöne Sonnentage insgesamt.


Das Treffen mit der einzelnen Cousine in der Großstadt war inhaltlich gut gefüllt, die Wertschätzung einfach fühlbar. Insgesamt waren es berührende Tage dort. Ich gebe zu, dass ich mir vom großen Familientreffen in Atzbach deutlich mehr versprochen hatte. Anscheinend ist der sehr seltene Kontakt zu so vielen Menschen en bloc nicht ausreichend, um überhaupt Empathie zu ermöglichen, also Mitschwingen, gedankliche Nähe und mehr.

Um das Bild mit dem Spiegel aufzugreifen: Der Spiegel in der Großstadt war hochmodern, mit Vergrößerungsanteilen und gut beleuchtet. Der Spiegel in Mittelhessen war leider etwas trübe, die Reflexe oft mehr wie blasse und sehr alte Bilder, sein Rahmen nicht ganz zeitgemäß. Ein Treffen mit der Verwandtschaft ist wie ein Blick in den Spiegel? Das dürfte stimmen, doch Achtung: Die Spiegel sind nicht alle gleich.

Soll ich in die Mailingliste schreiben, dass alle Familienmitglieder gerne einzeln bei mir eingeladen und willkommen sind? Ich glaube, das mache ich! Ihr seid willkommen!

Schreibe einen Kommentar

* Bitte verwenden Sie ein signifikantes Pseudonym, nicht Ihren Klarnamen. Ihre IP-Adresse wird beim Absenden anonymisiert. Ihre Email-Adresse ist nicht erforderlich.