Antimoderner Reflex mit Tradition im deutschen Sprachraum!
Querdenker, Coronaleugner, Impfgegner, Links-Alternative, Lebensreformbewegte, Anthroposophen, Waldorfschulen, Evangelikale, Identitäre, A-Partei, Neonazis, Rechtsradikale. Das sind Begriffe und Gruppen, die in der aktuellen Diskussion um die Coronavirus-Pandemie und besonders bei der gegenwärtigen Impfdiskussion eine Rolle spielen. Irgendwie treffen sich hier gesellschaftliche Gruppen, deren faktische Nähe doch sehr irritiert.
Der TAZ-Autor Andreas Speit, Jahrgang 66, verfolgt schon seit Jahren den Rechtsextremismus. Er hat darüber mehrere Bücher geschrieben. In der TAZ habe ich den Artikel „Herkunft der Impfgegner und Querdenker: Antimoderner Reflex mit Tradition“ gefunden. Hier werden die Begriffe erläutert und in ihren aktuellen und den geschichtlichen Zusammenhang gestellt.
Ich bin doch verwundert, welche Gruppen bei den Querdenker-Demos zusammen auftreten. Man sollte doch meinen, dass zumindest Linksalternative und Gruppen am rechten Rand unverträglich seien. Aber es scheint nicht so zu sein. Irgendetwas verbindet die.
Schon vor mehr als 150 Jahren haben sich in der Lebensreformbewegung Gruppen gefunden, die die Sehnsucht nach einem ganzheitlichen, ja ursprünglichen Dasein einte. Wenn man so will, ist diese ein Ausläufer der Romantik. Zurück zur Natur ist das Motto, Anti-Wissenschaftlichkeit ist selbstverständlich, Esoterik ist angesagt, eine Art Endzeitstimmung macht sich breit. Damit verbunden ist ein sehr konservatives Weltbild. Selbst Platz für Antisemitismus gibt es hier.
Wenn wissenschaftliches Denken nicht zählt, was dann? Nun, selbsternannte „Wissende“ werden wie Propheten gehandelt. Fake-News und absurde Verschwörungstheorien haben in den Gruppenchats gegen wissenschaftliches Denken leichtes Spiel. Selbst der Verband der Waldorfschulen sah sich am 21.11.2021 genötigt, in einem offiziellen Statement auf der eigenen Website Position zu beziehen. Ich denke, dass bei denen der Haussegen schief hängt.
Als Arzt waren mir die sogenannte Homöopathie, die Naturheilkunde, die TCM, auch die Akupunktur und anderer Zauber immer suspekt. Ich habe das nur in Fällen geduldet, bei denen die wissenschaftliche Medizin gar nichts bieten kann. Es gibt m. E. einfach keine Wahrheit hinter der Wahrheit. Schamanen und Zauberer brauchen wir nicht. Selbstverständlich weiß ich, dass nicht alle den rationalen Weg mitgehen können. Wir brauchen nur an die Vielfalt der Religionen zu denken! Aber das weicht vom Thema ab.
Entfremdung in der Hypermoderne
Andreas Speit
Schon 1980 mahnte Jürgen Habermas, die „Moderne“ sei ein „unvollendetes Projekt“. Die Versprechen der Aufklärung, mit Logik und Ratio eine universelle Grundlage für Moral und Recht für eine humanistische Welt zu erreichen, seien nicht erfüllt. 40 Jahre später ist dieses Projekt für die „Querdenker“ und Coronaleugner:innen endgültig gescheitert.
Die Entfremdung von der durchrationalisierten Hypermoderne spiegele sich nicht nur in der Skepsis gegenüber ihren Institutionen wie Parteien, Parlamenten oder Presse, sondern auch, so Nachtwey und Co-Autoren, in „einer romantisch inspirierten Hinwendung zu ganzheitlichen, anthroposophischen Denkweisen, dem Glauben an die natürlichen Selbstheilungskräfte des Körpers, Forderungen nach mehr spirituellem Denken und dem Wunsch, Schulmedizin und alternative Heilmethoden gleichzustellen.“
Das trifft es sehr gut, finde ich. Dass sich bis zu 20 % der Deutschen in diesem gedanklichen Umfeld befinden, ist doch erstaunlich und bestürzend. Jedenfalls ist es deswegen nicht leicht, die „Querdenker“ mit einfacher Logik zu überzeugen. Dass Impfungen einer der wesentlichen Fortschritte der modernen Medizin sind, scheint vielen Impfgegner nicht bewusst zu sein. Hier noch der Link zu O. Nachtwey: Mit sachlicher Aufklärung ist nicht viel zu erreichen.
Gestern wurden in ZDF heute mehrere Personen zur Impfpflicht interviewt. Eine ältere Dame sprach voller Überzeugung von einer aggressiven Stimmungsmache gegen Impfverweigerer. Sie hat da wohl etwas total verdreht, wenn man an die Querdenker-Demos und deren Hass-Posts denkt. Aber was erwartet man auch von einer Gruppe, die selbst Symbole des Holocausts komplett umdeutet?
Frank Ulrich Montgomery, Vorstandsvorsitzender des Weltärztebundes, und Stephan Weil, Ministerpräsident von Niedersachsen, sagten vor einigen Tagen, Deutschland erlebe eine „Tyrannei der Ungeimpften“. Diese Aussage finde ich eher richtig.
Ich glaube nicht, dass es ohne eine allgemeine Impfpflicht gegen SARS-CoV-2 gehen wird. Wie man diese durchsetzen will, weiß ich allerdings nicht. Der „Staat“ pampert zur Zeit noch die Impfgegner, er fasst sie mit Glacé-Handschuhen an.
Meine Freiheit ist auch die Freiheit jeder anderen Person. Das gilt nach Immanuel Kant. Diese Feinheit des Selbstverständnisses in einer Demokratie wird uns gerade vor Augen geführt. Wer nur Freiheit für sich selbst einfordert, die anderen dabei außer Acht lässt, der handelt verantwortungslos.
