Von Amerika lernen?
In Deutschland gäbe es keine Opiatkrise, sagte kürzlich der ehemalige Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin. Auf deren Website findet sich das Wort Opiatkrise nicht einmal. Da finden sich allerdings Begriffe wie Compliance, Transparenz, Kodex, FSA und AKG. Es ist aber total unscharf formuliert, was die Begriffe mit der Fachgesellschaft insgesamt zu tun haben sollen. Interessenkonflikte würden nicht bestehen. Wie das denn, ohne verpflichtende Selbsterklärung?
Etwas anschaulicher wird es, wenn man die Sponsoringliste zum Schmerztag 2021 als Basis nimmt. Mundipharma soll angeblich nur 2500 Euro beigesteuert haben. Wer’s glaubt! Warum hat sich die Fachgesellschaft nicht selbst einen Verhaltenskodex gegeben? Der Verweis auf die einflussnehmenden Pharmafirmen und deren FSA und AKG reicht wohl nicht aus.
Wenn man diese offiziell deklarierten Zahlungen für den Schmerzkongress 2021 als Maßstab nimmt, so bleibt aus meiner Sicht festzuhalten, dass die Schmerztherapie und damit vermutlich auch die Palliativmedizin erheblich von Lobbyismus durchsetzt sind. Und das ist bestimmt nur die Spitze des Eisbergs. Denn das ist nur der Anteil, der deklariert wurde.
Ich denke an manche meiner früheren KollegInnen, und wie sie mit der Industrie öffentlich gekungelt und davon profitiert haben. Deutschland ist eine schmerztherapeutische Wüste! So war damals ihr Original-Ton, als ob der Spruch aus einem Werbefilm von Mundipharma/Purdue Pharma stammte. Deutschland bot offensichtlich einen Markt, der erschlossen werden sollte.
Diesen Spruch habe ich persönlich genommen. Empörend fand ich es, mich und alle anderen erfahrenen Kollegen somit als Dummies abzustempeln. Ich war schließlich mal ein Alt-Internist, ein Generalist. Und die Schmerztherapie gehörte ideell und praktisch zu meinem typischen Bereich. Die Behandlung von (terminalen) Schmerzen ist schließlich urärztliche Aufgabe. Punkt.
Ich erinnere mich noch gut an die Präsentation von Opiat-Austauschtabellen durch die „Schmerzspezialisten“ und den impliziten Gedanken, dass Schmerz nur ein Opiatmangelzustand sei. Und dass bei sachgerechter Anwendung keine Suchtgefahr bestünde. Die Website der o. g. Fachgesellschaft hat auch heute keinerlei Einträge zu den Begriffen Opiatkrise, Sucht und Abhängigkeit im Zusammenhang mit Opiattherapie.
Ich finde das merkwürdig. Ist das Thema hier etwa tabu? Gibt es keine Aufarbeitung wie in den USA? Deutschland findet sich immerhin weltweit auf Platz zwei oder drei bei der Opiatverschreibung. OK, die Leitlinie LONTS wurde 2020 neu verfasst. Sie geht auch kurz auf die Opiatkrise ein.
Da fällt mir ein junger Schmerzpatient ein, nicht mal 30 Jahre alt. Und dennoch unter hoch dosierten Opiaten stehend. Mit sehr engen Pupillen, merkwürdig cool im Verhalten, verminderte Interessen über sich selbst hinaus. Somit vom Verhalten her fast wie ein Junkie. Dieser Patient hatte keine maligne oder sonstige terminale Erkrankung. Was war also der Grund für diese sogenannte „Therapie“? Vielleicht eine somatoforme Störung? Oder eine anderweitige psychische Erkrankung? War die Indikationsstellung etwa fehlerhaft?
Aus der eigenen Erinnerung, für die Anonymität etwas verändert.
Wie soll man mit der Situation umgehen? Es ist schließlich zu befürchten, dass auch die Palliativmedizin durch die Pharmalobby korrumpiert ist. Durch eine fehlerhaft indizierte oder zu hoch dosierte Opiattherapie wird auch hier den Patienten wahrscheinlich die Entscheidungsfähigkeit genommen. Wenn ich dann bedenke, dass die Situation um die Sterbehilfe in Deutschland derzeit rechtlich gesehen etwas offen ist, dann kommt noch mehr Sorge bei mir auf. Siehe meinen Blog-Eintrag „Herrgott„.