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St. Pankartius Hoinkhausen Choransicht

Besser Rekonstruktion als Dekonstruktion

Es war neulich ein kurzer und intensiver Kontakt zur eigenen Sippe. Der Anlass war allerdings ein trauriger. Nun bin ich mit 72 Jahren der Älteste dieses Teiles meiner Verwandtschaft. Dabei traten Erinnerungen zutage, die ich fast vergessen glaubte. Wie ich mich von dem religiösen Gedankengut meiner Vorfahren weitgehend gelöst habe. Mich also entsprechend neu definieren musste. Ich habe deswegen etwas herumgelesen. Dabei kam mir der – natürlich amerikanische – Begriff Faith Deconstruction unter. Ich finde aber, dass Rekonstruktion es besser trifft als Dekonstruktion. Ich möchte mich aber nicht in unscharfen, mehr philosophischen Begriffen verlieren, zumal, wenn sie vorbelastet sind.

Es ist erstaunlich, dass viele Mitglieder meiner Familie unverändert eine religiöse Sprache verwenden, die der meiner Jugend entspricht. Im Hinblick auf die damaligen Bezugsinstitutionen EG und CVJM hat sich dort im Hüttenberg allerdings eine Weiterentwicklung ergeben hin zur evangelikalen Freikirche. Eine Position zur Amtskirche hin ist der Webseite nicht direkt zu entnehmen. Meine Eltern fühlten sich immer der evangelischen Amtskirche verbunden, trotz ihres Pietismus. Das mündete m. E. sogar in einer Art übergeordneter Religiosität, die nicht von der Abgrenzung lebte. Ich habe darüber bei Muttertag unter „Communal Christianity“ geschrieben.

Nun findet sich also hier vor Ort das Gegenteil. Ob das dem Familienpropheten Johannes Seipp recht gewesen wäre? Die wortwörtliche Auslegung der Bibel mag manchem ja helfen, schwierige Entscheidungen zu vermeiden. Ich gelange allerdings schnell dahin, dass mir das Verständnis dafür abhandenkommt. Schon lange gibt es in der Theologie die historisch-kritische Methode. Hat die Mehrzahl meiner Verwandten nie etwas davon gehört? Ist die Bibel nicht eine große, heterogene Schriftensammlung aus dem Nahen Osten? Sind nicht die Ursprünge der Texte oft sogar ganz gut irdisch definiert? Warum denn eine wortwörtliche Auslegung als „Gottes Wort“ fordern? Ich finde das maßlos, ja sektiererisch.

Die großen monotheistischen Offenbarungsreligionen aus dem Nahen Osten, gemeint sind Judentum, Christentum, Islam und Bahai, hatten m. E. genügend Zeit, ihre moralische Überlegenheit zu demonstrieren. Aber das hat bekanntermaßen überhaupt nicht geklappt. Israel demontiert sich gerade selbst. Was die Bahai bewirken, ist für mich nicht so richtig fassbar.

Ich weiß, dass in den USA 50 % der Menschen evangelikal denken. Ob sie es auch leben, das ist mir nicht bekannt. Dort gibt es Gottesdienste als multimediale Großevents in speziellen Stadien, regelrechte Star-Prediger, evangelikale Musik-Hits, eigene TV-Sender mit Shows und religiösen Filmen, ja sogar christliche Serien. Die private Religiosität als Hauptziel, der „Personal Jesus“, den man durch eine „Bekehrung“ finden soll. Die Community dient dabei als Rechtfertigung des eigenen Handelns. Aber gleichzeitig soziale Politik verteufeln, Fremde und Arme ablehnen, Typen wie Donald Trump gut finden. Waffen ohne Ende produzieren und besitzen, sich als Weltpolizei fühlen, mit dem Gefühl, die Wahrheit gepachtet zu haben.

Was unterscheidet ein evangelikales Christentum von den intoleranten Auswüchsen des Islams und des Hinduismus? Putin lässt sich beim Bekreuzigen im TV darstellen! Selbst Kyrill ist Kriegsunterstützer! Skandalös! Erdogan nutzt den Islam als Staatsreligion für seine Zwecke. Modi in Indien macht das gerade mit dem Hinduismus. Schauen wir doch in den Iran, dann weiß man, wohin Religion führt bzw. führen kann. Der Nationalismus instrumentalisiert konsequent die jeweiligen Religionen.

Meiner Meinung nach ist der „Glauben“ an eine Religion samt ihrem dogmatischen Hintergrund keine gute Idee, um eigene Probleme, die Spannungen einer Gesellschaft oder gar der ganzen Welt zu lösen. Mein Onkel, der Pfarrer und ehemalige Missionar, sagte gerne in Diskussionen, dass durch die Verbreitung des Christentums viel mehr Menschen umgebracht worden seien, als Christen durch Verfolgung umgekommen.

Mir ist schon klar, dass somit eine Art Ethik oder Moral für das Zusammenleben erforderlich ist, die aber keine typische Religion sein kann. Eine Art Kategorischer Imperativ wie bei Kant vielleicht, oder ein moralisches Grundgesetz, wo wir doch 75 Jahre Grundgesetz Deutschland feiern. Ansonsten würde der Egoismus dominieren, heute oft mit dem hässlichen Gesicht des Nationalismus und der Fremdenfeindlichkeit.

Meine skeptische Haltung zu Religionen im Allgemeinen bedeutet nicht Missachtung des religiösen Kulturgutes. Unsere abendländische Geschichte ist davon geprägt. Im Hinblick auf die anderen Religionen gilt das genauso. Wir bleiben aber inhaltlich nicht an der immergleichen Stelle im Sinne von Offenbarungsreligionen mit ihren umfassenden Wahrheitsansprüchen. Religionen sind immer wissenschaftsfeindlich, somit natürlich auch das evangelikale Weltbild. Ich finde, dass alle Religionen durch und durch autoritär sind, Persönlichkeitskult, Autokraten und undemokratisches Verhalten fördern.

St. Pankratius in Hoinkhausen, einem winzigen Ort mit heute nicht einmal 200 Einwohnern, gibt es seit etwa 1250. Zumindest Respekt davor ist angebracht. Kulturell bedeutsam ist so ein Ort allemal. Und es fühlt sich gut an, dort eine Kerze anzünden für die Unglücklichen und die Glücklichen.

St. Pankratius Hoinkhausen Orgelansicht
St. Pankratius Hoinkhausen Orgelansicht

Vielleicht liest jemand aus meiner Familie ja diesen Text und antwortet mir sogar. Es ist klar, dass es für mich ein langer Weg war bis dorthin. Eine Art Rekonstruktion meiner Persönlichkeit, was es besser trifft als Dekonstruktion. Das ist oft nur ein evangelikaler Terminus technicus. Es gibt keine Wahrheit hinter der Wahrheit. Diese Erkenntnis war anfangs schmerzhaft.

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