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Intolerant gegen Intoleranz

„Cancel Culture“ als intellektueller Kampfbegriff der Rechten?

Die Welt und die FAZ haben es schon immer gewusst: Intolerant sind die natürlich die Linken, also die anderen.

Ein Déjà-vu! Das ist eine ähnliche Situation, wie beim Evolutionsweg im Westerwald beschrieben: Die Konservativen begründen hier ihre Missachtung für naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit dem Verweis auf ihre Religionsfreiheit!

Manche Dinge bedürfen schließlich im spezialisierten wissenschaftlichen Umfeld keiner Diskussion mehr. Man könnte sich vorstellen, dass die Gesprächsbereitschaft dann gering ist. Oder sollen wir zurück ins Mittelalter?

Nun haben Revers und Traunmüller ihre nicht vergleichende Erhebung bei den „linken“ Studenten der Sozialwissenschaft an der Uni Frankfurt durchgeführt. Man hat etwa 6500 Studenten befragt, jedoch nur 7,5 % haben den Befragungszyklus vollständig absolviert. (Anm. Wenn das in einer medizinischen Studie so akzeptiert würde, wäre das ein Skandal. Die Dropouts sind für die Aussage schließlich relevanter als die wenigen, die vollständig geantwortet haben.)

Ein Drittel waren Studienanfänger. Nur 16 % gaben an, mit den Parteien CDU und FDP zu sympathisieren, lediglich 2 % mit der AFD. Warum die Autoren nicht vergleichend mit Fakultäten mit konservativerer Studentenschaft gearbeitet haben, bleibt mir vollkommen unklar. Denn so funktioniert Wissenschaft nun mal. Mit einer absichtlich völlig asymmetrischen und noch dazu sehr unvollständigen Datenbasis der Linken Intoleranz nachzusagen, das ist wissenschaftlich gesehen ein starkes Stück.

Die vier Kernfragen zur Akzeptanz des Islams, zur Geschlechtergleichheit, zur Hinnahme der Migration und zur Akzeptanz der Homosexualität sind für die Mehrheit in Gruppe der Studenten in Frankfurt sicherlich keine verhandelbare Meinung. Ich würde sagen, die jungen Leute haben da ihre eigenen Standards.

Dennoch wundert es mich, dass etwa 2/3 der Studenten Vertretern gegensätzlicher Meinung sogar Raum zur Rede gewähren würden. Da von Intoleranz zu sprechen, das finde ich schon krass. Dass man sich Personen mit gegensätzlichem Wertebild nicht als Lehrer wünscht, ist für mich nachvollziehbar. Deren Bücher zu verbannen – so wie die Studenten abgefragt wurden – macht m. E. keinen Sinn. Was soll die Frage in Zeiten der sowieso online verfügbaren Publikationen?

Warum haben die Autoren nur unidirektionale – gemeint ist: auf die Zielgruppe zugeschnittene – Fragen zu so wenigen Items gestellt? Warum nicht Fragen aus inverser Sicht, um „Intoleranz“ als abstraktes Merkmal messen zu können? Bei medizinischen Fragebögen, z. B. bei Scores ist es üblich, mehrere Gegenfragen zur Verifizierung mitzuführen. Sonst kann eigentlich nur das herauskommen, was man messen wollte. Im Eichenwald findet man Eichen. Das genau wird den Autoren in Rezensionen in der Süddeutschen Zeitung und der TAZ auch vorgehalten.

Die TAZ verwendet nun endlich – obwohl in der Originalpublikation peinlich vermieden – den Begriff Cancel Culture, einen negativ besetzten Begriff vorwiegend der Rechten in Deutschland. Es geht hier vom reinen Prinzip her um den Schritt aus der Diskussionsebene hinein in die persönliche Ausgrenzung desjenigen, der die verpönte Meinung vertritt. Hier noch ein Link zu einem Artikel in der Zeit zum Thema. Die Rechte hat den eigentlich anders besetzten Begriff bereits zur semantischen Aufwertung ihrer beliebten vorgeblichen Opferrolle akquiriert.

Im Bundestag gibt man sich als Retter der Grundrechte, im Gebäude sind Agitatoren unterwegs, und vor dem Gebäude nutzen die Neonazis die Corona-Verwirrten für ihre Zwecke. Im Netz nutzt man die sozialen Medien für Hass und Fake. Wer hat eigentlich unzählige Anschläge auf Asylantenheime vorgenommen? Wer hat Morde auf dem Gewissen? Wer leugnet den Holocaust bzw. wer toleriert das?

Ich denke, das Aufbauschen der Cancel Culture ist wieder einmal ein Versuch, der Intoleranz gegenüber der eigentlichen Intoleranz die moralische Legitimation abzusprechen. Mögen die Autoren doch mal die Intoleranz der Rechten messen! Dann sehen wir weiter. Ansonsten sind sie nur die intellektuelle Schlägertruppe der Rechten!

Demokratie muss auch wehrhaft sein, die Dinge beim Namen nennen können! Holocaust und Nationalsozialismus sind nicht vergessen! Coronaleugner gefährden ihre Mitmenschen!

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