You are currently viewing Geschwister als Schicksalsgemeinschaft
Geschwisterbeziehungen nach Furmann und Buhrmester

Geschwister als Schicksalsgemeinschaft

Ambivalenz als Prinzip

Vor einer Woche waren wir zu einer großen Geburtstagsfeier eines Verwandten eingeladen. Viele der 90 Gäste kenne ich seit meiner Kindheit. Obwohl man sich lange nicht gesehen hat, besteht dennoch eine erhebliche Verbundenheit. Ich schätze, dass es in meiner Jugend etwa 20 gleichaltrige Familienmitglieder gab. Sie gehörten zu meiner damaligen Peer-Group. Wenn das mit der Verbundenheit bei diesem Familienkreis schon so ist, wie verhält es sich erst mit meinen Geschwistern? Sind Geschwister gar eine echte Schicksalsgemeinschaft?

Die örtliche Pastorin saß neben mir. Ich erzählte von meinem letzten Blog-Post mit dem Titel „Vergeben – vergessen, oder einfach akzeptieren?“ Sie berichtete von dem gleichlautenden Thema ihrer heutigen Predigt. Na so etwas! Schreibe ich etwa schon über pastorale Themen?

Wir kommen auf Geschwisterkonflikte zu sprechen. Ich stelle die Frage, warum Geschwister denn so zerstritten sein können. Wo sie sich von der Herkunft her doch so wenig unterscheiden. Ihre ethischen Werte sind und bleiben vergleichbar. Ihre Sozialisation auch, allerdings ist der persönliche Werdegang unterschiedlich. Worum geht es eigentlich? Geht es doch nur darum, Bester, Schönster, Erfolgreichster zu sein? Den Eltern zu gefallen?

Die Pastorin sieht die Hauptursache von Geschwisterkonflikten in der elterlichen Ungleichbehandlung. Die war im Falle meiner Familie sicher vorhanden, schon alleine durch den Altersunterschied der Geschwister. Aber war sie wirklich die alleinige Ursache für anhaltende Konflikte?


Ich mag das nicht recht glauben. Die Eltern seien schuld. Das ist wie: Die Mütter sind an allem schuld. Sind wir einfach NIMBY’s? Schuld seien immer die anderen. Was ist mit von außen an die Familie herangetragenen Konflikten? Die stören ja auch die Interaktionen und die Harmonie, sie lenken die Aufmerksamkeit von den Kindern ab.

Meine Eltern haben sich rein sachlich um eine Gleichbehandlung von uns Geschwistern bemüht. Alle vier haben erfolgreich das Gymnasium besucht und studiert, auch ein akademisches Fach erfolgreich abgeschlossen. Das war damals noch nicht selbstverständlich. Die beruflichen Wege waren aber jeweils sehr unterschiedlich. Mein Bruder war zuletzt selbständig, ich war mehr als 42 Jahre angestellt tätig. Meine Schwestern waren beide nur kurz angestellt tätig, danach selbständig, allerdings wirtschaftlich nicht wirklich erfolgreich. Sie nahmen mehr die traditionelle Mutterrolle ein.

Als zweitgeborener Sohn wurde mir im frühen Kindesalter offensichtlich weniger Aufmerksamkeit zuteil. Meine Mutter hat mir erzählt, sie sei mir wohl nicht ganz gerecht geworden. Ich hätte viel geschrien, und sie habe sich nicht sehr viel um mich kümmern können. Das lag daran, dass der Altersabstand zu meinem Bruder nur 19 Monate war, und dass auf sie selbst Konflikte ihrer eigenen Herkunftsfamilie einwirkten. Das erste Fahrrad meines Bruders hatte eine Dreigangschaltung. Meines keine Schaltung, das macht einen Unterschied.

Wenn ich den Werdegang meines Bruders betrachte, so hat er deutlich mehr Höhen aber auch echte Tiefen erlebt als ich. Ich habe wohl früh erlernt, unnützen Konflikten aus dem Weg zu gehen und Nischen für mich zu finden. 35 Jahre Anstellung beim gleichen Arbeitgeber unter etwa 7 Chefärzten sprechen eine klare Sprache. Wer so etwas aushält, hat wohl in der Kindheit Strategien zur Konfliktvermeidung erlernt.

Findet denn Kinderaufzucht etwa in einer sozial oder psychologisch „sterilen“ Umgebung statt? Total harmonisch, perfekte Mütter und Väter, beste Wohnbedingungen, nur positive soziale Kontakte. Optimiert wie eine Nährlösung bei Bakterienkulturen. Ich halte das für eine Illusion. Vermutlich sind gerade die nicht idealen Bedingungen der eigentliche Normalzustand, der Garant für die Entwicklung von Individuen.

Doch zurück zum Thema elterliche Ungleichbehandlung als Ursache der Geschwisterrivalität. Ich möchte ich mich selbst schlaumachen. Warum sind meine Geschwister und ich in der Interaktion manchmal so streng, so unerbittlich, so scharfzüngig?


Bei der Literatursuche habe ich den Eindruck, dass die Forschung zu Geschwisterkonflikten generell stagniert. Die heutigen Familien sind ja auch viel kleiner bei im Mittel unter zwei Kindern. Interkulturelle Aspekte lasse ich sowieso außen vor. Natürlich könnte ich auch Medline für die Suche verwenden. Allerdings liefert „siblings“ über 60.000 Treffer. Das ist zu viel für einen Laien.

Die folgenden Quellen zur Geschwisterforschung in Deutschland finde ich bemerkenswert. Allerdings sind die Veröffentlichungen und besonders deren Quellen vielfach älteren Datums. Aber als Materialsammlung taugen sie allemal:

  1. Geschwister – der aktuelle Stand der Forschung, von Hartmut Kasten (ca. 1995)
    Eine knappe wissenschaftliche Darstellung zur Geschwisterforschung.
  2. Geschwisterbeziehungen, Dissertation von Sabine Bojanowski von 2016
    Dissertation mit umfangreicher Einleitung zum Thema, Evaluierung des Fragebogens SRQ-deu,
Merksätze aus beiden Veröffentlichungen:
  • Geschwisterbeziehungen haben in der Sozialisationsforschung lange Jahrzehnte wenig Beachtung gefunden. Anderen Sozialbeziehungen wie Eltern-Kind-Beziehungen, Partnerbeziehungen, Peer-Beziehungen oder hierarchischen Beziehungen (z. B. Vorgesetzter-Untergebene) wurde demgegenüber wesentlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet. (H. Kasten 1995, S. 3)
  • Geschwisterbeziehungen sind geprägt durch die Gleichzeitigkeit von „Nähe“ und „Rivalität“. (H. Kasten 1995, S. 1)
  • Geschwisterbeziehungen sind somit geprägt durch positive Komponenten wie Nähe, Intimität und Verbundenheit, aber auch durch deren negative Gegenstücke wie Rivalität, Eifersucht und Aggression. (H. Kasten 1995, S. 11)
  • Einflüsse elterlichen Erziehungsverhaltens auf die Regulation geschwisterlicher Rivalität
    seien evident und wissenschaftlich belegt. Einer empfohlenen individualisierenden Behandlung durch die Eltern stehen auch die äußeren Einflüsse durch eine stark leistungsorientierte Gesellschaft entgegen. (H. Kasten 1995, S. 9)
  • „Zwischen Geschwistern ist Rivalisieren eines der häufigsten Interaktions- und Beziehungsmuster.“ Es erfüllt insbesondere die Funktion der Abgrenzung untereinander. (nach Bojanowski: H. Sohni, 2011, S. 56)
  • Statistisch konnte man feststellen, dass Geschwister zwischen zwei und neun Jahren alle neun Minuten miteinander streiten. (nach Bojanowski: H. Sohni, 2011).
  • Geschwister beeinflussen sich nicht nur wechselseitig, sondern ihre Beziehung und deren
    Qualität wird auch von ihren Eltern beeinflusst. Darauf weisen bereits Furman und Buhr-
    mester (1985a) mithilfe ihres (u. a.) Flussdiagramms hin. Dabei können Eltern sowohl positiv als
    auch negativ auf die Beziehung ihrer Kinder einwirken. (Bojanowski 2016, S. 16)
  • Von der Familienforscherin Ann Goetting 1986 wurden prosoziale Entwicklungsaufgaben für Geschwister postuliert, die diese in den verschiedenen Phasen ein ganzes Leben gemeinsam zu bewältigen hätten. (H. Kasten 1995, S. 4)
„Essentials“ aus der Geschwisterforschung, nach H. Kasten, 1995, S. 3:
  1. Die Geschwisterbeziehung ist die längste, d. h. zeitlich ausgedehnteste Beziehung im Leben des Menschen.
  2. Geschwisterbeziehungen besitzen etwas Schicksalhaftes, weil man sie sich nicht aussuchen kann, sondern in sie hineingeboren wird.
  3. Geschwisterbeziehungen können nicht beendet werden, sie wirken fort, auch wenn sich die Geschwister getrennt haben oder keine Kontakte mehr stattfinden.
  4. In unserem Kulturkreis gibt es keine gesellschaftlich kodifizierten Regeln, die auf den Ablauf und die Gestaltung von Geschwisterbeziehungen Einfluss nehmen (so wie Heirat, Scheidung, Taufe, Kündigung oder andere Prozeduren und Rituale).
  5. Zwischen Geschwistern existieren mehr oder weniger ausgeprägte, ungeschriebene Verpflichtungen, die sich in solidarischem, Anteil nehmendem, hilfsbereitem und hilfreichem Verhalten manifestieren können.
  6. Durch das „Aufwachsen in einem Nest“ können Geschwisterbeziehungen durch ein Höchstmaß an Intimität charakterisiert sein, das in keiner anderen Sozialbeziehung erreicht wird.
  7. Typisch für die meisten Geschwisterbeziehungen ist eine tief wurzelnde (oftmals uneingestandene) emotionale Ambivalenz, also das gleichzeitige Vorhandensein von intensiven positiven Gefühlen (Liebe, Zuneigung) und negativen Gefühlen (Ablehnung, Hass).
Flussdiagramm der Geschwisterbeziehung Furman & Buhrmester, bei Bojanowski 2016

Was habe ich bei der noch oberflächlichen Lektüre zu Geschwisterkonflikten gelernt? Ich meine, dass die Angelegenheit wenig erforscht ist. Geschwisterbeziehungen: Es beginnt spielerisch und wird doch zu einer bedeutenden Sache. Am Anfang: Komm her, hau ab! Ich mag dich, ich hasse dich! Später dann: Rivalität, Konflikt. Oder doch Nähe und Vertrautheit. An allem sollen die Eltern Schuld haben? Ich finde, dass auch sie in ihren Familienkonflikten lebten. Prosoziale Eigenschaften hatten beide, da gibt es keinen Zweifel.

Die Sache mit der postulierten lebenslangen Entwicklungsaufgabe für Geschwister fasziniert mich. Das trifft es in unserem Fall wirklich. Geschwister bilden eine Art Schicksalsgemeinschaft, ob sie das wollen oder nicht. Packen wir es an!

Schreibe einen Kommentar

* Bitte verwenden Sie ein signifikantes Pseudonym, nicht Ihren Klarnamen. Ihre IP-Adresse wird beim Absenden anonymisiert. Ihre Email-Adresse ist nicht erforderlich.