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Landschreibergasse 2 in Atzbach

Familienforschung als ein Hype für alle?

Kaum werden die Menschen älter, interessieren sie sich auf einmal für ihre Vorfahren. Ist denn Familienforschung ein Hype für alle? Leben wir denn nicht im Hier und Jetzt? Dennoch müssen doch in der Geschichte Hinweise für die Zukunft stecken, so die Hoffnung. Oder aber gilt, frei nach Desmond Tutu: „Wir lernen aus der Geschichte, dass wir nichts aus der Geschichte lernen.“ Die Wahlerfolge der AfD sprechen stark dafür, dass fast 30 % der Deutschen tatsächlich nichts aus der Geschichte lernen.

Mein Motiv für die Beschäftigung mit der Genealogie ist, mehr über die Motive des Handelns der Alten zu erfahren, um damit Hinweise zu meinem eigenen Verhalten zu erhalten. Denn sie prägen mich bestimmt noch heute. Das gilt besonders für meine Beschäftigung mit Johannes Seipp, dem Familienpropheten der Seippe bzw. meiner Langs aus Großrechtenbach.

Genealogie als bloße tabellenartige Herkunftsbeschreibung „Wer, wann und mit wem“ zu betreiben, halte ich für blutleer. Es erinnert mich außerdem stark an den Ahnenpass der Nazizeit und die damit verbundene schlimme Rassenideologie. Ich möchte einfach mehr über die Personen wissen, die Menschen dahinter, was sie bewegt hat, ihre Interessen und ihre Berufe, ihr Schicksal.

Zudem schenkt die Darstellung als Ahnentafel oder Familienbaum denen die wesentliche Aufmerksamkeit, die viele Nachkommen haben. Als ob die Produktion von Nachkommen der einzige Aspekt des Lebens sei! Wer keine Nachkommen hat, der scheint uninteressant.

Was ist mit denen, denen das nicht vergönnt war? Deren Lebensweg ihnen keine geeigneten PartnerInnen beschert hat. Die aus anderen Gründen kinderlos geblieben sind. Die biologisch unfruchtbar sind. Das mag für 20 % der Paare gelten. Deren sexuelle Orientierung ihnen das Kinderkriegen eher nicht ermöglicht. Letzteres gilt für mehr als 10 % der Bevölkerung. Ach so, für das Enkelkriegen sind die Kinder und ihre PartnerInnen zuständig, bitteschön.

Es gab allerdings auch in den früheren Großfamilien immer eine Reihe von Mitgliedern, die kinderlos blieben. Sie haben oft besondere Berufe gehabt, oder einfach in der Großfamilie unterstützend gewirkt. Manche wurden auch einfach mitgetragen. Für manche Familienmitglieder gilt, dass sie sich bewusst gegen Kinderkriegen entschieden haben. Dafür gibt es ideologische Gründe, aber auch persönliche Motive wie Erbkrankheiten, die jemand aus Verantwortungsbewusstsein nicht weitergeben möchte.

Kinderlosigkeit oder Ausbleiben von Enkeln ist für mich kein Mangel, auch kein Zeichen der Schwäche. Diese mögen Ausdruck meines persönlichen Lebensweges sein, eventuell auch tatsächlich Elemente meiner Persönlichkeit. Eine gescheiterte Ehe der Eltern prägt ohne Zweifel die Kinder. Aber darüber zu klagen, das bringt gar nichts.

Wenn ich mich so bei Bekannten umschaue, dann sind Enkel und die Beschäftigung damit sinnstiftend. „Ich habe Enkeldienst!“, heißt es dann je nachdem, oft als plausible Ausrede. In religös fundamentalistischen Familien ist Kinderreichtum ein Markenzeichen. Siehe Nordamerika mit MAGA.

Ich bin gespannt, was sich aus der aktuellen Familienforschung um „Agel“ und „Landschreibergasse in Atzbach“ ergibt. Früher oder später tauchen dann nicht so erfreuliche Aspekte auf, die daran erinnern, dass das menschliche Leben komplex ist, manchmal traurig und belastend, dass es so etwas wie Schicksal und Krankheit gibt. Familienforschung als ein seichter Hype für alle, das wird nicht funktionieren. Vielleicht lernen wir ja doch etwas aus der Geschichte, auch aus auch der eigenen Familiengeschichte.

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